Vorschläge zur Verbesserung
Ulrich Bossert
Paradoxien
Die folgenden Ausführungen sind bewußt überspitzt formuliert. Sie sollen zum Nachdenken über die Schulpolitik anregen und Bewegung in diese bringen, die häufig nur noch Finanzpolitik ist. Die Darlegungen sollen nicht den Eindruck erwecken, daß es nur unsinnige Entscheidungen von Behörden, nur ausgefallene Ideen zum Biologieunterricht, nur faule Lehrer und nur uninteressierte Schüler gibt; der jeweilige Leser ist sowieso ausgenommen. Ich bitte deshalb, nicht über einzelne Formulierungen zu streiten, sondern die Überlegungen als einen Anstoß zu betrachten, die Ausbildung unserer Schüler zu verbessern. Es geht nicht um ein Fach, sondern um die Zukunft der Jugendlichen – deshalb sollte niemand beleidigt schmollen, sondern jeder sollte mithelfen, Veränderungen diesbezüglich zu bewirken. Die Analyse basiert natürlich auf meinem Erfahrungsbereich; im großen und ganzen wiederspiegelt sie aber sicher die Situation des Biologieunterrichts in Deutschland.
Im Bereich des Biologieunterrichts und der naturwissenschaftlichen Fächer insgesamt gibt es Paradoxien, die schwerwiegende Folgen haben könnten und zum Teil schon haben. Manchmal taucht die Spitze des Eisberges auf – der Mittelplatz, den Deutschland bei den internationalen Studien zum mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht ( beide TIMSS ) eingenommen hat. Den Rest verbirgt das trübe Wasser des dezentralen Abiturs – falls die Universitäten und die Industrieverbände sich nicht gerade laut zu Wort melden.
Jeder hebt die Bedeutung der Naturwissenschaften für die Zukunftsgestaltung der Menschheit hervor. Darin sind sich alle einig. Allerdings sehen einige die Rolle der Naturwissenschaften und der Technik negativ, andere positiv. Biologie wird allgemien als Schlüsselwissenschaft der Zukunft angesehen. Auch sie wird zwiespältig beurteilt.
Trotz dieses hohen Stellenwertes steht die Gesellschaft den Inhalten der Naturwissenschaften oft gleichgültig gegenüber. Sie nutzt zwar die Errungenschaften der Naturwissenschaft, kümmert sich aber nicht um die Einsichten.
Die Politiker, denen in "Sonntagsreden" die Ausbildung der Kinder und Jugendlichen am Herzen liegt, kürzen in der Realität jedoch die Wochenstundenzahlen für naturwissenschaftliche Fächer. So hat beispielsweise die letzte Änderung der Stundentafeln in Hessen die Gesamtzahl der Wochenstunden für Biologie, Chemie und Physik in der Sekundarstufe I um 3 Stunden (von 22 auf 19) verringert. Siebenmal (!) wird eines der Fächer einstündig oder epochal unterrichtet. Die drei Fächer können zu dem Fach "Naturwissenschaften" zusammengefaßt werden. Das führt zu fachfremdem Unterricht und unweigerlich zur nächsten Kürzung der Stundenzahlen. Die zunehmenden Klassenfrequenzen verstärken all diese Probleme.
Die Abiturprüfungsordnung vieler Bundesländer bringt es mit sich, daß Biologie von über der Hälfte aller Abiturienten als Prüfungsfach gewählt wird. Auf dem "Fundament" von 8 Stunden in der Sekundarstufe I ruhen dann die 8 bzw. 12 Stunden der Sekundarstufe II. Das ist eine sehr wackelige Konstruktion. Abbildung 1 zeigt das Planungsmodell. Real fällt in der Mittelstufe der Biologieunterricht häufig aus; an manchen Schulen gibt es nur zweistündige Grundkurse.
National und global gesehen türmen sich Probleme auf, die von der heranwachsenden Generation gelöst werden müssen. Die Zukunft wird die Menschen vor weitere z.T. ganz unerwartete Aufgaben stellen.
Stimmt man mit dieser Sicht der Dinge überein, so müßte man verlangen, daß schon die Ausbildung in der Sekundarstufe I (alle sollen ja die Probleme beurteilen und lösen können) zu einem Weltbild führt, das zwar nicht vollständig sein kann, das aber eine für die Heranwachsenden erkennbare Grundstruktur zeigt und ein lebenslanges Lernen erleichtert.
Da den Gestaltungskriterien für die Rahmenpläne Allgemeine Biologie, die (momentane) Gesellschaftsrelevanz und die (momentanen) Schülerinteressen zugrunde liegen, entsteht für den Jugendlichen kein Grundmuster, das er später weiter ausführen kann. Für den Fachmann, der eine ganz andere Ausbildung hat, wird ein Muster sichtbar – aber auch das ergibt kein Weltbild.
Es geht nicht darum, ob die Fachwissenschaft in der Fachdidaktik abgebildet werden soll (sicher nicht) oder ob die momentane Gesellschaftsrelevanz bei der Auswahl vorrangig entscheidend ist. Bedeutender ist, wie ein solides Gedankengerüst entsteht, an dem lebenslang weitergebaut werden kann.
Für Lehrpläne kann es begründete Argumente, aber kein "richtig" oder "falsch" geben, da es um gesellschaftspolitische Entscheidungen geht. Es gilt, was das entsprechende Kultusministerium verordnet, damit ist es noch lange nicht automatisch richtig. Ob die Entscheidung für die Kinder richtig war, zeigt sich viel später. Ein unmittelbarer Zusammenhang läßt sich bei der Komplexität der Situation ohnehin nicht nachweisen.
Hinzu kommt die für einen Außenstehenden sicher sehr merkwürdige Tatsache, daß die Lehrpläne für die beiden Stufen wenig aufeinander abgestimmt sind.
Die Lehrpläne für die Sekundarstufe II stimmen in den verschiedenen Bundesländern und einigen europäischen Ländern (z.B. Frankreich, Italien) weitgehend überein. Sie lehnen sich stark an die Fachwissenschaft an und besitzen, zumindest auf dem Papier, einen hohen Anspruch.
Das Fundament (Sekundarstufe I) gestaltet jedes Bundesland selbst. Fachwissenschaftliche Überlegungen spielen häufig eine Nebenrolle.
Immer wenn die Gesellschaft Probleme nicht lösen kann, überträgt sie sie der Schule bzw. in diesem Fall dem Biologieunterricht. Verkehrsprobleme und Suchtprävention sind zwei Beispiele von vielen aus dem Rahmenplan des Hessischen Kultusministeriums für die Jahrgangsstufen 7/8.
Die Stundentafeln sehen in Hessen für die 8. Klasse je eine (!) Wochenstunde für Biologie, Chemie (beginnt erst in dieser Klassenstufe) und Physik vor. Das sind "ideale" Voraussetzungen für die Vernetzung der erarbeiteten Inhalte und die Konzeption fächerübergreifender Projekte z.B. zur Lösung der Verkehrsprobleme und der Abwehr der Drogengefahr. Beides sind ernstzunehmende Themen und die überspitzte Darstellung soll deutlich machen, daß sie bei der zur Verfügung stehenden Zeit höchstens angesprochen werden können.
Ein Biologieunterricht von maximal acht Wochenstunden in der Sekundarstufe I auf 6 Schuljahre verteilt mit einem Inhalt, dessen Konzept von dem der folgenden Jahre stark abweicht, ist, vorsichtig formuliert, sicherlich keine gute und verantwortungsvolle Vorbereitung der Schüler auf die Sekundarstufe II.
In der Sekundarstufe I wird in Hessen dringend empfohlen, die Inhalte der naturwissenschaftlichen Fächer zu vernetzen. Oft ist kein Inhalt da, weil mal dieses und mal jenes Fach dem schulinternen Rotstift zum Opfer gefallen ist. In der Sekundarstufe II reicht es aus, eine Naturwissenschaft zu belegen. Viele Schüler wählen Biologie als Prüfungsfach, Chemie und Physik jedoch ab. Naturwissenschaften können deshalb auch hier nicht vernetzt werden.
Die Naturwissenschaftler und ihre Verbände fordern mit Recht immer wieder eine Erhöhung der Stundenzahlen für die Fächer Mathematik, Biologie, Chemie und Physik. Die Biologielehrer und die Vertreter der Fachdidaktik beklagen die schmale Stundenbasis des Biologieunterrichts.
Betrachtet man die Mehrzahl der Veröffentlichungen zum Biologieunterricht, so ist es unverständlich, welche Vorschläge in fachdidaktischen Beiträgen für die wenigen kostbaren Stunden häufig gemacht werden. Statt die Inhalte sorgfältig auszuwählen und die Stoffdichte pro Unterrichtsstunde zu erhöhen, findet man häufig Vorschläge, über die man sich nur wundern kann. Oft wird ein Thema, das zwar interessant ist, im vollen Lehrplan aber nur eine Nebenrolle spielen kann, zu einer umfangreichen Unterrichtsreihe ausgedehnt. Eine Examensarbeit, die nur mit Spezialgeräten des Instituts durchgeführt werden konnte, wird als Experiment für den normalen Unterricht vorgeschlagen. Als besonderen Auswuchs möchte ich zuletzt noch die weit verbreiteten Kreuzworträtsel anführen.
Zu diesen z.T. interessanten, aber für die Praxis ungeeigneten Vorschlägen kommt dann noch das eigentliche Problem: das Dilemma der Didaktik. Wie oft wurde in den letzten Jahrzehnten der Stein der Weisen wieder und wieder entdeckt.
Die Allgemeine Didaktik und auch die Fachdidaktik als Geisteswissenschaften können aber trotz aller empirischer Ansätze keine Auswahlkriterien "beweisen". Die Wahrheit gibt es auch in den Naturwissenschaften nicht.
Außerdem lassen sich für die fernere Zukunft (Lehrpläne sind langlebig) nur Trends für einzelne kleine Bereiche angeben; eine Gesamtentwicklung oder gar Wendungen lassen sich nicht voraussehen.
Unbestritten nehmen die Informationsflut und der Wissensfortschritt zu; d.h. kontinuierliche Weiterbildung der Biologielehrkräfte ist von großer Bedeutung.
Sieht man dann, wie viel Aufwand für den Unterricht und die Verwaltungsarbeit nötig sind und wie wenig von der verbleibenden Zeit einzelne Lehrer bereit sind, der individuellen Fortbildung zu opfern, so kann man sich vorstellen, daß das zu mangelnder Unterrichtkompetenz führen muß. Die Veranstaltungen der Lehrerfortbildung finden bis auf wenige Ausnahmen in der Unterrichtszeit statt und die angebotenen Themen sind oft sehr exotisch – d.h. sie bilden für etwas fort, das aus Zeitmangel höchstens in Projektwochen stattfinden kann.
Unterricht im Team, eine sehr gute Weiterbildungsmöglichkeit, ist jederzeit möglich – soweit man gewillt ist, die zusätzliche Zeit zu opfern; Deputatstunden stehen dafür kaum zur Verfügung.
Statt die Lehrer bei der täglichen Arbeit, den Studienfahrten, sonstigen Sonderaufgaben und den wachsenden organisatorischen Aufgaben zu unterstützen, sichert sich die Verwaltung durch eine Unzahl von Vorschriften ab und überlegt, wo etwas auf Kosten der Kollegen und damit letztlich der Kinder gespart werden kann.
Wenn die Ausbildung so wichtig für die Zukunft der Jugendlichen ist, müßte die Qualität des Unterrichts kontrolliert werden. Eine direkte Kontrolle des Unterrichts ist nur sehr schwer möglich und wird von vielen Kollegien abgelehnt. Eine indirekte Qualitätskontrolle durch Zusammenarbeit der Lehrer ist leider viel zu selten. Zentrale Prüfungen bzw. ein zentrales Abitur gibt es nur in wenigen Bundesländern.
"Das Theaterspielen wird nicht leichter aus dem einfachen Grund, weil sich die unmittelbare Lebenserfahrung der Menschen reduziert, immer gleichmäßiger wird: Immer mehr Leute erleben mehr oder weniger dasselbe, es gibt eine Normierung des Erlebten und eine unglaubliche Zunahme an virtuellem Erlebten." (Peter Stein, FAZ vom 8.2.98, S.3)
Dieses Zitat aus einem Interview mit Peter Stein kann man ohne Abstriche auf die Schule übertragen.
Die Schüler sind arm an wirklichen Erfahrungen und zum Teil abgebrüht, was ihre aus dem Fernsehen gewonnene Eindrücke von Monstrositäten betrifft. Diese Entwicklung wird durch die zunehmende Leseunlust verstärkt.
Obwohl allen Schülerinnen und Schülern bei steigenden Arbeitslosenzahlen und steigenden Anforderungen in der Zukunft der Wert einer guten Ausbildung klar sein müßte, bestehen manchmal Disziplin- und Motivationsprobleme, die freilich die Jugendlichen nicht allein zu verantworten haben. Sie gehen z.T. auf die ichbezogene Erziehung zurück, die die individuellen Interessen in den Vordergrund stellt.
Die Schülerinteressen haben aber zwei Aspekte: Zum einen die subjektiven Interessen eines jeden Einzelnen, die sich zu einer diffusen Klasseninteressenslage addieren, zum anderen die objektiven Schülerinteressen, die der Pädagoge auch oder zu allererst bedenken sollte: Was benötigen die Jugendlichen in der Zukunft.
All zu oft stehen die kurzfristigen, subjektiven Interessen der Jugendlichen im Vordergrund.
updated 4.Oktober 1998
© B.Bossert